Mein Großvater Henry fuhr, so lange ich mich erinnern kann, eine Mittelklasse-Limousine eines deutschen Herstellers. Dieses Auto gibt es heute noch, zumindest dem Namen nach. Optisch und technisch hat das aktuelle Modell mit dem aus der Mitte der achtziger Jahre nicht mehr viel zu tun. Das liegt einerseits daran, dass natürlich ständig technische Neuerungen erfunden und verbaut werden müssen. Andererseits darf dem Kunden auch nicht langweilig werden, das Design muss dem Zeitgeschmack angepasst und gegebenenfalls neue Modellreihen aufgelegt werden. Dagegen ist überhaupt nichts einzuwenden. Wer würde schon gerne ohne ABS oder Airbag durch die Gegend fahren?
Die klassischen „Modellreihen“ der Ahlen Worscht hingegen sind seit Jahrzehnten, wenn nicht Jahrhunderten, dieselben. Jeder Liebhaber kennt sie: Die Dürre Runde, die Stracke, die Schlacke, die Blase und den Hammerstiel. Aber woher kommt diese Formenvielfalt? Ist das „Modellpflege“ mittelalterlicher Wurstdesigner? Selbstverständlich nicht. Aber die Arten und Formen unserer Ahlen folgen dennoch einem ausgeklügelten System.
Wie schafft man es also, das Fleisch eines im Winter geschlachteten Schweins bis zum nächsten Winter haltbar zu machen – und zwar so, dass zu jeder Jahreszeit immer eine leckere Wurst zur Verfügung steht? Die Antwort, die unsere Vorfahren gefunden haben, ist so einfach wie genial: In dem man aus dem einen geschlachteten Schwein verschiedene Würste herstellt, die unterschiedlich lange reifen. Vor allem, ein weiterer genialer Gedanke der historischen Ahle-Macher, mit Ausgangsmaterialien, die zu großen Teilen vom Schwein selbst stammen. So musste weder zugekauft noch weggeworfen werden.
Für die Dürre Runde zum Beispiel wird der sogenannte Kranzdarm genutzt und tatsächlich erinnert eine frisch gefüllte Runde in ihrer Form an einen Ring Kasseler Kochwurst. Sie ist nur etwas dünner – bei der Kochwurst wird der Rinderdarm genutzt, nicht der Schweinedarm – aber eben rund. Schon nach etwa sechs Woche ist die Runde gereift, dabei getrocknet, also dürr geworden und hat ihre charakteristische Form. Bindet man dieselbe Wursthülle nicht zum Ring sondern hängt sie am Bindfaden auf, so wird aus ihr der „Knüppel“ oder „Hammerstiel“.
Die deutlich dickere Stracke ist ebenfalls gerade, braucht aber wegen des größeren Kalibers deutlich länger zur Reife. Obwohl sie mit derselben Wurstmasse gefüllt ist, entwickelt die Stracke durch die langsamere Reifung eine andere Konsistenz und vor allem einen ausgeprägteren Geschmack. Eine zwölf Monate gereifte „Dicke Stracke“ ist ein Wunderwerk des Wurstmacherhandwerks und kann es vom Aromareichtum und Geschmack locker mit jedem Käse, luftgetrockneten Schinken oder edlen Rotwein aufnehmen. Aber auch dünnere Stracke, sechs Monate gereift, ist ein Geschmackserlebnis.
Übertroffen wird die Stracke vielleicht noch von der Schlacke oder Schlackwurst. Für sie wird der dickwandige Mastdarm des Schweins genutzt, der dafür sorgt, dass die Wurst noch langsamer reift. Trotz monatelangen Hängens auf der Wurstekammer bleibt die Schlackwurst innen weich und mürbe, beim Essen schmilzt sie regelrecht auf der Zunge und entfaltet dabei ein unvergleichliches Aroma.
Unsere einfallsreichen und sparsamen Vorfahren nutzten aber nicht nur Därme als Wursthüllen. Auch die Flomenhaut aus der Bauchhöhle des Schweins wurde von geschickten Händen zu einer Wursthülle genäht. Aus ihr wurden oft die Keulen, deren Hüllen heute allerdings nur noch selten von Hand genäht werden, da nur noch wenige diese Kunst beherrschen. Auch Kalbsblasen wurden damals oft als Hülle für die Ahle genutzt, dementsprechend wurden die fertigen Würste oft nach der verwendeten Hülle „Blummenhudd“ oder eben Blase genannt.
So „verpackt“ in unterschiedliche Hüllen konnte die im Herbst oder Winter gefüllte Ahle ohne Kühlung das Jahr überdauern und dabei, obwohl mit demselben Brät, ganz unterschiedliche Geschmäcker und Aromen ausbilden. Jede eine echte Ahle, dennoch sind alle auf ihre Art einzigartig.
Der Einfallsreichtum und die Könnerschaft unserer nordhessischen Vorfahren, die uns diese Formen- und Geschmacksvielfalt überliefert haben, nötigt mir ein ums andere Mal Respekt ab. Übrigens, der Vergleich zwischen Autos und Ahlen hinkt gewaltig, natürlich betreiben auch die nordhessischen Metzger „Modellpflege“. Aber davon berichte ich in einem der nächsten Beiträge.
von Katharina Koch, erschienen am 28.01.2017 auf hna7.de.