Der Thüringer nennt sie Feldkieker, der Hesse Ahle Worscht: In der Mitte Deutschlands wird die Mettwurst noch von Hand gemacht. Jeder Metzger hat sein Rezept

Endlich Herbst! Fünf Monate lang musste der Metzger Thomas Koch aus Calden bei Kassel warten. Denn erst wenn der letzte Apfel von den Streuobstwiesen zur Lohnmosterei gebracht worden ist und die ausgedehnten Wälder sich bunt färben, beginnt im Dreiländereck zwischen Kassel, Göttingen und Heiligenstadt das Mettwurstjahr. Wer sich in diesen Wochen auf die Suche nach dieser deutschesten aller Würste macht, reist durch Fachwerkdörfer und -städte wie Duderstadt, Hannoversch Münden und Heiligenstadt, er besucht strenge Hugenottensiedlungen und romantische Dörfchen, und er trifft Menschen, Metzger und Gastwirte, die eine Wurstkultur pflegen, von der man gedacht hätte, sie sei vielleicht längst ausgestorben.

Heute, an einem Montag, hat Thomas Koch schon 20 Schweine in die Därme befördert, am Donnerstag müssen wieder zehn dran glauben. Seine Gesellen spritzen im Schlachtraum die letzten Borsten in den Gulli. Koch eilt in Gummischürze und Gummistiefeln über den spiegelglatten Fliesenboden. Dabei erklärt er, worauf es ankommt bei der Ahlen Worscht, wie die Mettwurst hier in der Gegend heißt. »Die Sau muss bei mir im Betrieb sterben.«

 

Koch verarbeitet jedes Schwein einzeln, Molle für Molle. »Da wird kein Gramm Mett gemischt.« So gibt jedes Tier seine individuellen Eigenschaften an die Wurst weiter. Der Fettgehalt schwankt von Sau zu Sau und von Wurst zu Wurst, auch Form, Farbe und Konsistenz sind unterschiedlich, weil Kochs Würste in historischen Lehmkammern reifen.

 

Der Metzger greift eine handwarme Stracke, eine dicke, gerade Wurst, aus dem Gestell und schneidet sie auseinander: »Frisch gemahlener weißer Pfeffer ist dran, ganz wenig frischer Knoblauch und Salz.« Mehr will er nicht verraten. Bis auf eins: »Warmfleischverarbeitung! Die Schweine haben ja eben noch gelebt!« Warmfleischverarbeitung ist seiner Meinung nach das A und O der Mettwurst. Denn Rohwürste aus schlachtwarmem Mett brauchen keine Starterkulturen, um den Reifeprozess in Gang zu bringen. »Die Wurst schmeckt besser«, sagt Koch, »weil die ätherischen Aromen der Gewürze vom warmen Fleisch viel besser aufgenommen werden.« Das ist der Fleischbürokratie nicht geheuer. Sie wollen Leute wie Koch zwingen, ihr Fleisch aus dem Schlachthof zu beziehen. Für Koch eine bedrohliche Vorstellung. Denn abgesehen davon, dass er im Schlachthof nur kalte Schweinehälften bekommt, sind ihm die europäischen Standardsauen viel zu jung und zu leicht. Die Wurstschweine, die er von den Bauern der Umgebung bezieht, bringen ausgenommen noch mindestens 150 Kilo auf die Waage. »Nur die haben genug Speck für eine gute Wurst auf den Rippen.«

 

Aus dem feuchten Fliesenraum steigen wir Stockwerk für Stockwerk nach oben, wo die Gefache des Fachwerkhauses mit Lehm ausgeschlagen sind, einem Material, das Feuchtigkeit und Temperatur von allein reguliert und das deshalb für Kochs Mettwurst so wichtig ist wie das warme Fleisch seiner Schweine. Die erste Lehmkammer ist schon voll. Nächstes Jahr im April, am Ende der Schlachtsaison, werden dort tonnenweise Stracken und Dürre Runde, eine zum Ring gebundenen Variante, an den Holzstangen baumeln. Wenn man dann nach oben schaut, blickt man in den Wursthimmel.

 

Koch freut sich darauf wie ein kleiner Junge. Wenn seine Würste reif sind, haben sie fast 30 Prozent ihres Ursprungsgewichts verloren. »Neun Tonnen lösen sich einfach so in Luft auf«, sagt er. »Das sind 60 Schweine! Die sind einfach mal weg!« So ganz stimmt das nicht, denn riechen kann man sie noch. Hunderte von verschwundenen Schweinen haben sich in den Poren seines Lehms verewigt. Es duftet nach Herbstlaub, Pilzen und Pfeffer – und irgendwie auch nach Heimat.

 

In der wald- und wasserreichen Mittelgebirgslandschaft hat Milchwirtschaft im großen Maßstab sich nie entwickelt. Kein Gedanke an Allgäuer Verhältnisse, dazu sind die Weidegründe zu klein. An Fulda, Werra und Oberweser wurde der Wohlstand schon immer in Schweinen gezählt. Wer eine schwere Sau im Stall hatte, dem konnte ein harter Winter so schnell nichts anhaben.

 

Hemeln, unsere nächste Wurststation, hat 1989 Gold geholt beim Landeswettbewerb »Unser Dorf soll schöner werden«. Außerdem gibt es in dem Weserdörfchen noch eine der raren motorlosen Seilfähren. Sie wird von der Strömung angetrieben und verbindet Niedersachsen mit Hessen. Am Ufer steht das Gasthaus zur Fähre, ein lang gestrecktes Fachwerkhaus in Schwarz-Weiß. An Sonnentagen rollen libellenbunte Fahrradfahrer heran und Motorradfreaks, die ihre hubraumstarken Maschinen direkt neben dem Miststall aufbocken, darin die Hinterlassenschaft der Schweinchen im Hinterhof, die hier gehegt und gepflegt werden, bevor sie den Hausschlachter kennenlernen.

 

Man sitzt unter dichten Linden an bunten Holztischen, während die Kellner ohne Unterbrechung Tabletts mit den begehrten schnörkellosen Mettwurstbroten nach draußen tragen. Saure Gurken, grüne Riesenknacker, aus denen beim Reinbeißen der Saft spritzt, muss man extra bestellen. Hinterher gibt’s selbst gebackenen Zucker-, Obst- oder Schmandkuchen vom Blech und Kaffee aus angeschlagenen Sammelkännchen. Hätte Hemeln nicht bis 1990 am vernachlässigten Rand der Republik gelegen, gäbe es hier bestimmt auch längst Panini mit Mozzarella oder Salami, denken wir und freuen uns schon auf einen Besuch auf der anderen Seite des deutschen Mettwurstdreiecks.

 

An der Fachwerkstadt Hannoversch Münden vorbei, gelangt man werraaufwärts direkt nach Thüringen. Gleich hinter der ehemaligen Grenze begrüßt den Mettwurstpilger die monumentale Burgruine Hanstein. Sie lag zu DDR-Zeiten im absoluten Sperrgebiet. Zu ihren Füßen liegt das Dörfchen Bornhagen. Auf dem Weg nach oben passieren wir den Klausenhof, ein thüringisches Gasthaus, dessen Speisekarte zeigt, dass Diätfetischisten und kleinkarierte Kalorienzähler in diesem Teil Deutschlands noch immer einen schweren Stand haben: Es gibt Rostbratwürste und Eichsfelder Stracken aus hauseigener Schlachtung. Die Mettwürste werden auf den blanken Holztischen als »fette Atzung« zum Bauernbrot serviert – mit Schmand, versteht sich, einem besonders sahnigen Sauerrahm. Das ist die Stärkung, die man braucht, um sich weiter die Wendeltreppe im Bergfried emporzuschrauben, den die DDR-Grenztruppen zu einem Spähposten umfunktioniert hatten.

 

Oben heult einem der Wind um die Ohren, aber die Aussicht! Wald, Wald und nochmals Wald. Alles grün. Der Hanstein wurde im Dreißigjährigen Krieg verwüstet, als die brandschatzenden Truppen des schwedischen Feldherrn Tilly im Sold der Katholiken Dörfer und Städte verwüsteten. Seitdem hält die Burg den Rekord als größte Ruine Mitteldeutschlands.

 

Der Feldkieker, der in dieser Gegend erfunden wurde, ist die originellste, wenn nicht sogar die beste Mettwurst der Welt. Metzger Karl-Heinz Weber aus Reinholterode bei Heiligenstadt, der zu DDR-Zeiten sein Geld als Hausschlachter verdiente, hat auf den Dörfern seiner Heimat alle möglichen Rezepte dafür kennengelernt. Die Grundidee ist überall gleich: Das Schweinemett wird in den Mastdarm gefüllt, und während die Wurst reift, entwickelt sie ihre charakteristische Birnenform. Ein Feldkieker kann es auf über eineinhalb Kilo Gewicht bringen. Im Prinzip ist er eine Bauernpastete in runder Form, von der man schöne dicke Scheiben abschneidet. Wie bei einer Salami hauchdünne Scheiben zu hobeln ist unmöglich. Und wäre auch nicht stilecht.

 

»Immer schön dick abschneiden. Sonst schmeckt man doch gar nichts von der guten Wurst«, sagt Metzgermeister Weber. Er leitet einen 14-Mann-Betrieb und verarbeitet im Monat rund hundert Wurstschweine. Er ist stolz darauf, dass er noch schwerere Schweine verwurstet als sein Kollege Koch in Calden. »Was nutzt mir ein Schwein, das schnell hochgetrieben ist, und die Wurst wird nichts?«, fragt er und liefert die Antwort gleich hinterher: »Meine Schweine werden 20 Meter von hier geboren und mit Weizen- und Gerstenschrot aus der Region aufgezogen, bis sie 250 Kilo auf die Waage bringen.« Anders als bei Koch hat in seiner Metzgerei die Technik gesiegt. Lehm gibt’s hier nicht, auch kein Fachwerk. »Oben in der zweiten Etage habe ich zehn Klimakammern, und die sind alle voll. Ich kann das ganze Jahr schlachten.« Dort werden Temperatur und Luftfeuchtigkeit exakt geregelt, damit der wertvollen Fracht während ihrer Reifung nur ja nichts passiert. Einen Teil seiner Feldkieker räuchert Weber – aber nur ganz kurz und auch erst nach der Reifung, sonst würde der Rauchgeschmack zu intensiv.

 

Bei der Mettwurst ist alles eine Frage des Kalibers. Webers Stracken sind mit 45 Millimeter Durchmesser nach sechs Monaten fest, ein 120er Feldkieker kann sogar zehn Monate hängen und brilliert dann immer noch mit einer zarten Textur: Erst weich und cremig im Biss mit leicht säuerlichen Aspekten im Hintergrund. Dann kommt die Attacke, ein warmer Erdgeschmack explodiert am Gaumen und mischt sich mit dem reinen Fleischaroma. Schließlich schmilzt der Biss, und alles fließt dahin. Diese verblüffende Fähigkeit verdankt sie, man muss der Wahrheit ins Auge sehen, ihrem Fettgehalt. Unter den Würsten ist der Feldkieker aus dem Eichsfeld das Rubensmodell. Diät ist woanders.

Quelle: Die Zeit 08.11.2007